In der Schwebe. Zur Frage der Verortung in den Arbeiten von Jörg Mai

und Petra Graupner

 

anlässlich der Ausstellung „Blickwechsel“ in der Stadtgalerie Radebeul

vom 15.07.2016 – 21.08.2016

 

 

Wir befinden uns in der Stadtgalerie Radebeul, im Stadtteil Kötzschenbroda. Wir sind für diesen Moment hier verortet, tragen wir ein Smartphone bei uns und haben die Ortungsdaten freigeschaltet, dann sind wir jetzt auf einem Punkt 51,10877 Grad nördlicher Breite und 13,61959 Grad östlicher Länge zu finden und senden genau diese Daten per GPS in den Weltraum. Einerseits eine etwas beklemmende virtuelle Betrachtung, andererseits vielleicht auch ein transzendentaler Zufall, auf den wir später noch zurück kommen.

 

Unsere Verortung und verlässliche Orientierung im Raum beruht auf einer Kartierung, einer genauen geografischen Vermessung der Welt, die schon in der Antike begann, im 17. Jahrhundert mit einer grundsätzlichen Tendenz zum Beobachten und Erforschen der Natur und Landschaft eine wissenschaftliche Blüte erlebte und im Verlauf des 19.Jahrhunderts zu ihrer präzisen Gestaltung gelang bis sie sich im 20. Jahrhundert auch physisch bis den Weltraum und heute metaphysisch bis in digitale Sphären erstreckt.

 

Und parallel zu dieser Entwicklung finden wir das Vermessen, Erforschen, Beobachten der Natur nicht zufällig auch in den jeweiligen künstlerischen Betrachtungen der Landschaft wieder, die sich im 17. Jahrhundert als eigenständige Gattung entwickelt. War die Landschaft zuvor nur eine theatralische Kulisse für religiöse oder heroische Szenen, wird sie nun zum bildgebenden Gegenstand. Landschaftsformationen und Himmelsstimmungen, Wolken- und Lichtstudien werden zum Ausdruck und Spiegel eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels in der Weltwahrnehmung. Gleichzeitig aber auch zu Allegorien subjektiver Stimmungen, wie zum Beispiel in der Niederländischen Malerei Jacob von Ruisdaels berühmte oft düstere und schwermütig wirkende Landschaften mit ihren dramatischen Wolkenformationen, absterbenden Bäumen und sich herabstürzenden Wasserfällen. Es ist gerade dieses Wechselspiel von präziser malerischer Umsetzung, vermeintlich genauer Verortung in einer Reallandschaft und deren allegorischer Idealisierung in Form einer konstruierten Natur, welche daraufhin die Maler der Romantik im frühen 19. Jahrhundert insbesondere Caspar David Friedrich so fasziniert und beeinflusst haben. Und auch zu seiner Zeit waren es bahnbrechende philosophische und politische Paradigmenwechsel, die einen empfindsamen Geist wie Friedrich beschäftigt und aufgewühlt haben und ihre symbolische Verarbeitung in der Landschaft finden.

 

Die Vorgaben einer klassischen oder barocken Ideallandschaft ignorierend, läuft Friedrichs revolutionäre Bildsprache aber den gängigen romantischen Vorstellungen von Landschaftsmalerei als rein gefühlsbetonter Ausdruckskunst zuwider und wird zum Wegbereiter einer modernen Interpretation. Seine berühmten allegorischen Landschaftsbilder, die melancholische Themen wie Einsamkeit, Tod, Jenseitsvorstellungen und Erlösungshoffnungen berühren, ermöglichen neben dem persönlichen oder anekdotischen Gestaltungsprozess immer wieder neue offene Betrachtungs- und Deutungshorizonte.

 

 

 

Es geht ihm nicht um eine Naturbetrachtung im Sinne der Nachahmung oder Überhöhung, sondern die Gemälde entstehen als ein vielschichtiger Prozess von verarbeitetem Naturerlebnis und gedanklicher Reflexion.

 

Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann förder zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“1

 

Trotzdem entsteht auch in den konstruierten Landschaften der Eindruck einer tiefen Naturnähe. Die Eröffnung von seelischen Wahrnehmungserlebnissen vor dem Hintergrund weiter offener Horizonte, unabgeschlossener unendlicher Landschaften, die sich in tiefe ruhige oder auch düstere Himmel erstrecken, ermöglichen immer neue Bezugsquellen für die Landschaftsmalerei der folgenden Jahrhunderte, über die Expressionisten bis hin zu Wolfgang Mattheuer oder Gerhard Richter.

 

So scheinen gerade Umbruchzeiten und Paradigmenwechsel die Landschaft immer wieder zum Fluchtpunkt des Menschen werden zu lassen. Wie auch bei Caspar David Friedrich, wo die Landschaftserfahrung die eines verlorenen, nach Halt und Erlösung suchenden Menschen in einer bedrohlich unendlichen und erhaben göttlichen Natur ist, scheinen auch heute wieder im postmodernen und postdigitalen Zeitalter, in einer permanent verfügbaren Bilderflut, einer flächendeckenden Selbstentblößung in den sozialen Medien und dem endlosen Nachrichten-Livestream weltweiter Katastrophen Künstler auf der Suche nach einer Landschaft zu sein, die gleichzeitig rückbesinnende einsame Naturerfahrung und ironisches Sinnbild dieser entfremdeten, menschengemachten und oft zerstörten Natur ist.

 

Einer ebensolchen Naturerfahrung begegnen wir hier in den Arbeiten von Jörg Mai.

Die Landschaft ist sein Motiv von Anfang an. Zuerst zeichnend mit Bleistift, irrsinnig kleinteilig und grafisch präzise, in einer Tiefenschärfe bis an den Rand der flachen Horizonte und weiten Himmel, dann zunehmend auch malerisch in einer altmeisterlichen Eitempera-Öl-Mischtechnik, anfangs fast monochrom, dann in immer weiter gefächerter Palette, die Formate immer raumgreifender werdend.

 

Es sind Landschaften, die sich nicht nur über ihre Titelgebung unschwer als hiesige verorten lassen: Elbauen, Waldsäume im Erzgebirge oder in der Sächsischen Schweiz, Flussniederungen und flache weite Ebenen der Leipziger Gegend. All diese wohlbekannten Gegenden mit ihren über Jahrtausende gewachsenen Kulturlandschaften vermitteln ein Gefühl von märchenhaft traumwandlerischer Vertrautheit, die aber gleichzeitig jeglicher Geborgenheit entbehren, sogar oft in einem eigenwilligen Schwebezustand verharren und nicht selten ins Unheimliche oder sogar Bedrohliche kippen.

 

Die oft bühnenartig gestaffelten Bildräume mit ihren stark perspektivischen Fluchten erzeugen im Auge des Betrachters eine latente Sogwirkung hinein in die Niederrungen der Bildmitte, über der sich dann luftig weite endlose Himmel ausbreiten, deren hyperreale Farbgebung die jeweiligen Wolkenstimmungen in subtil heran drohende Gewitterregen oder Schneestürme verwandeln oder den lieblichen Sonnenuntergang mit chromatischem Brandbeschleuniger in Flammen setzen.

 

 

Oft sind es gerade die Himmel, die jäh über die sanfte einsame Landschaft herein brechen und damit einen manchmal ironischen manchmal brachialen Keil in die Romantik treiben, die vordergründig aufkommen wollte.

 

So entsteht ein spannendes Vexierspiel zwischen beinah wissenschaftlicher Naturbeobachtung und Naturvision, zwischen realer und konstruierter Landschaft, das ähnlich der Landschaftsbilder Caspar David Friedrichs dem inneren Auge zum Sehen verhilft.

 

Die meisten Landschaften sind unbehaust, leer, einsam, aber nicht verlassen, die Spuren menschlicher Gestaltung bleiben sichtbar in Wegen, Ackerfurchen, symmetrischen Baumreihen, Brücken oder Strommasten. Manchmal tauchen Verkehrszeichen vollkommen unvermittelt angeschnitten am unteren Bildrand auf, mehr ironische als ikonische Zeugen einer Zivilisation, die Landschaft nur noch aus dem Auto wahrnimmt. Die wenigen Menschen die darin zu Fuss unterwegs sind, erscheinen klein, stolpern, fliehen oder ducken sich weg in Anbetracht der dramatischen bisweilen auch apokalyptischen Naturereignisse, die hier niemals nur Kulisse sondern immer Ausdruck existentieller Wahrnehmungserlebnisse sind.

 

Diese magischen Kontraste in Duktus, Licht- und Linienführung ermöglichen ein Feuerwerk der sinnlichen Betrachtungserlebnisse, lassen musikalische und und poetische Schwingungen zu. So vermag mancher vielleicht die Klänge von Brahms, Tschaikowsky oder Mussorgski vernehmen oder auch die Stimme Rilkes aus den Duineser Elegien „Wer, wenn ich schrie hörte mich denn aus der Engel Ordnungen...“ 2

 

Und als wollte es ein wie auch immer gearteter transzendentaler Zufall, treffen die Bilder von Jörg Mai in dieser Ausstellung auf solch engelsgleiche Wesen in den plastischen und zeichnerischen Arbeiten von Petra Graupner. Sie erscheinen unvermittelt, schweben heran wie Silhouetten im Raum, flüchtig in ihren ausladenden tänzerischen Bewegungen, filigran und ungreifbar in ihrer körperlichen Statur. Man muss sie vorsichtig umschreiten, ihre Linien mit den Augen nachzeichnen, um ihre Bewegung zu erfassen. Sie scheinen gleichzeitig hier und schon längst wieder fort und woanders zu sein. Man sieht sie förmlich durch den Raum huschen, tanzen, sich in Spiralen drehen. Es sind hybride Wesen zwischen kraftvoller Primaballerina und giacomettihaft zerbrechlichem Derwisch. So eröffnen auch sie analog zu den Bildern von Jörg Mai einen Schwebezustand, ein Pendeln zwischen Figur und abstrakter Form, zwischen Körper und reiner Bewegung. Sie selbst lassen sich nicht mehr verorten, sind nur noch Spuren körperlicher Anwesenheit. In immer weiterer Reduktion lotet die Künstlerin während des Entstehungsprozesses ihre statisch materielle Verankerung aus Gips, Draht, Acryl und Seidenpapier aus, um ihnen wiederum die größtmögliche Leichtigkeit und Bewegungsfreiheit zu geben.

 

Diese Leichtigkeit und Flüchtigkeit der Bewegungen, das duftig Schwebende und rauschhaft Wirbelnde findet sich auch in den filigranen Tuschezeichnungen wieder. Ähnlich der uralten Kunst der Kalligraphie, die in einer meditativen Versenkung in die Bewegungen des jeweiligen Buchstabens entsteht, lassen auch die Zeichnungen von Petra Graupner emotionale Schwingungen erahnen. Mal kraftvoll und satt, mal flüchtig und sanft gleiten und tanzen die handgefertigten Pinsel aus Tierhaarborsten über das Papier und lassen der Phantasie viel Raum, darin Spuren körperlicher Bewegungen, musikalischer Klänge oder tierischer Silhouetten zu erkennen.

Versenkt man sich in die Betrachtung so lösen sich die abstrakten Linien und Tupfer aus der Fläche und flirren schwingend ins Räumliche, verlassen ihre gerahmte Begrenzung und verflüchtigen sich in amorphe Aggregatszustände.

 

Und gerade diese transitorischen, vergänglichen Momente teilen sie wiederum mit den Naturschauspielen der Landschaften Jörg Mais, mit denen sie hier eine kurze zufällige Liaison eingehen. Das flüchtige Naturschauspiel mit seinen wechselhaften Stimmungen bildet hier einen bühnenartigen Rahmen für die entgrenzten Luftwesen und umgekehrt scheinen sich die expressiven frei drehenden Linien der Zeichnungen in der gebündelten Energie der Wolkenformationen fortzusetzen. Beide eint das innere Auge, das auf jeweils ganz andere Art zum Sehen gebracht wird. Präzise, beinah wissenschaftlich penibel hier die Gestaltung der Landschaft und verworren, überbordend dort die Ausführung der Körper und Gesten.

 

Für einen kurzen Moment verorten sie sich hier zusammen, treffen sich ihre Linien und Blicke wie die Umlaufbahnen zweier ganz verschiedener Systeme, vereint auf einer gemeinsamen geografischen Koordinate. Trotz ihrer Verschiedenheit lassen sie sich aufeinander ein und manchmal scheint es – wie vor dem Hintergrund von Jörg Mais Waldsaum – als wären sie füreinander geschaffen, so wie dieses engelsgleiche Wesen hier herein schwebt und die Leere des Raums durchbricht und uns als Betrachter hier und heute in diesem Raum für einen kurzen gemeinsamen Moment mitnimmt auf seine schwebende Reise.

 

In diesem Sinne, lassen Sie sich auf den verschiedenen Bewegungslinien durch die Ausstellung führen, begeben Sie sich auf eine Reise in vertraute und umheimliche Gegenden und lassen Sie dabei in Gedanken den rein geografischen Ort und seine Koordinaten weit hinter sich....

 

 

 

Katja Stintz, Dresden 2016

 

1Gerhard Eimer: Friedrich, Caspar David. Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. Bearbeitet von Gerhard Eimer in Verbindung mit Günther Rat, Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen, Teil 1, Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte, XVI, Frankfurt am Main 1999, S. 35

 

2Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, Bd. 1, Kapitel 1, Duineser Elegien, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1955